Raus aufs Land

Eigene Probeillustrationen zur meiner Kurzgeschichte "Raus aufs Land".

Die Geschichte wurde in der Zeitschrift GECKO veröffentlicht (Ausgabe 67).

„Paul! Jetzt komm schon!“

 

Mama und Papa sind schon fast um die nächste Straßenecke verschwunden.

Paul muss sich beeilen. Aber erst will er noch den zappelnden Tausendfüßler betrachten, der sich vor ihm auf der Straße kringelt.

Wie schnell sich die vielen, kleinen Beinchen bewegen! Ob es wirklich tausend sind?

 

Auf dem Bürgersteig gegenüber liegt Fritz faul in der Morgensonne. Das ist derdicke Kater von Herrn  Henning aus dem zweiten Stock. Er reckt sich langsam, gähnt lautlos sein Alter-Kater-Gähnen und schielt dann mit einem Auge zu den beiden herüber. ‚Schlaf schnell weiter', denkt Paul und nimmt den zappelnden Kringel behutsam zwischen Daumen und Zeigefinger, um ihn vorsichtig zu einer kleinen Hecke zu tragen.

 

„Paaaauuul!“

 

Über den Sommermargeriten von Frau Fricke aus der Luisenstraße tanzt ein Zitronenfalter in der Sonne.

Eine dicke Hummel brummt vorbei. Paul schließt die Augen. Rotwarm und schön fühlt sich das an.

  

„Los, beeil’ dich!“, hört er seinen Vater rufen.

 

Eine graublaue Taube tänzelt wippend über den Bürgersteig. Sie hält kurz inne und neigt ihr Köpfchen. „Gurr, gurr“, sagt sie heiser. ‚Ja, ich weiß’, denkt Paul. Rechts neben dem Eingang vom Imbiss erspäht er ein Mauseloch. Ob das wohl bewohnt ist? Der Imbiss jedenfalls hat noch nicht geöffnet. Über den Müllsack vor der Tür schlängelt sich zweispurig eine Ameisenautobahn. Fleißige Ameisenantennen tasten sich unermüdlich über ein blaues Plastikmeer. Erst runter auf den Bürgersteig, dann rechts am Gullideckel vorbei verschwindet das erbeutete Frühstück Krümel für Krümel in einer kleinen Ritze. Paul seufzt. „Ich würde Euch gerne helfen. Aber ich muss weiter.“

 

Auf dem Lenker eines klapprigen Fahrrads sitzt ein Sperling. Seine kleine, schwarze Brust hebt und senkt sich schnell, sein kastanienbraunes Köpfchen wackelt frech. Er sieht Paul, und Paul sieht ihn. „Tschilp, tschilp“, macht der Sperling und flattert davon.

Unten an der Hauswand lehnt lässig und längst pustebereit ein vergessenes Büschel Löwenzahn.

 

„Paul! Wo bleibst du denn? Wir wollen los!“

 

Wild wirbeln die kleinen Schirmchen durcheinander und steigen dann gemächlich in den hellblauen Himmel. „Wünsch dir was“, flüstert Paul. Ein paar der Pustepollen begleiten ihn noch bis zur Straßenecke. Auf der Rasenfläche vor dem Hochhaus gegenüber sitzt ein Kaninchen. Irgendwo bellt ein Hund. Jetzt ist das Kaninchen weg.

 

Der Picknickkorb, die Decken und sein Fußball liegen bereits im Kofferraum.

 

Papa steht vor der geöffneten Klappe und wartet. Auf Paul. Und darauf, dass die Hitze im Auto langsam nachlässt. Mama sitzt bereits auf dem Beifahrersitz und fächelt sich mit der Landkarte Luft ins Gesicht.

 

„Da bist du ja endlich! Wir wollen doch los! Raus in die Natur! Was erleben!“

 

'Erwachsene sind schon manchmal komisch', denkt Paul und steigt ein.

 

Sie wollen mit dem Auto an den Stadtrand fahren, denn da gibt es einen Park. Mit Bäumen. Paul sitzt auf der Rückbank. „Gleich darfst du auf eine große Wiese“ sagt er leise. Und lächelt, als sich der kleine Tausendfüßler in seiner Hand bewegt.